Abstract
In seiner Aufsatzsammlung Anthropologie statt Metaphysik behandelt Ernst
Tugendhat große metaphysische Fragen mit nüchternem Blick auf uns Menschen. Tugendhat plädiert
dort an mehreren Stellen für ein erkenntnistheoretisches Prinzip, nach dem wir uns z.B. dann zu
richten haben, wenn wir uns fragen, ob wir an Gott glauben sollen. Das Prinzip lautet: Wenn die
rationalen Gründe zugunsten einer Überzeugung genauso stark sind wie die rationalen Gegengründe,
und wenn wir – unabhängig von Vernunft – das Bedürfnis verspüren oder den Wunsch oder die
Hoffnung, dass die Überzeugung wahr sein möge, dann sollen wir uns gegen die fragliche
Überzeugung entscheiden. Ich halte dies Prinzip für zu pessimistisch und für überzogen rational.
Meiner Ansicht nach wären wir nicht gut beraten, dem Prinzip in unserem geistigen Leben immer zu
folgen; das ist nur in ganz speziellen Fällen ratsam. Um das plausibel zu machen, gehe ich
verschiedene Alltagsbeispiele durch, bei denen das Prinzip greifen würde und bei denen sich seine
Anwendung (in ganz verschiedenen Hinsichten) so ähnlich anfühlt wie bei der Frage nach Gott. Die
Beispiele betreffen Fragen der künstlerischen Selbsteinschätzung, des Wetters, der Liebe sowie der
menschlichen Qualitäten von Vor- und Nachfahren. Und da Tugendhats Prinzip schon bei solchen
harmlosen Beispielen pessimistische, aber keineswegs zuverlässige Ratschläge erteilt, sollten wir es
besser auch nicht auf die Frage nach Gott anwenden.