Wenn Briefwechsel versanden. Goethes Pech mit Lichtenberg

In Karsten Engel (ed.), Wissenschaft in Korrespondenzen. Göttinger Wissensgeschichte in Briefen. pp. 139-156 (2019)
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Abstract

Nur weil Goethes letzter Brief an den Aufklärer und versierten Experimentalphysiker Lichtenberg nicht mehr beantwortet worden ist, sind viele Interpreten zu dem Ergebnis gelangt, dass Lichtenberg den Briefwechsel aus Unwillen über Goethes unbelehrbare Newton-Kritik abgebrochen hätte; Goethe selbst hat diese Interpretation nahegelegt. Doch bei gründlicher Neulektüre ergibt sich ein optimistischeres Bild. Goethe stand damals am Anfang seiner Farbenforschung, äußerte sich zu Newton weit weniger polemisch als später, gegenüber Lichtenberg aber voller Respekt – und zeigte sich offen für Kritik. In einem seiner fünf Briefe reagierte Lichtenberg mit der erwünschten Kritik, und zwar so, wie sie unter Fachwissenschaftlern idealerweise aussehen sollte: voller Schwung, hinreichend skeptisch und doch konstruktiv. Goethe hat Lichtenbergs Kritik beherzigt, aufgegriffen, weitergedacht. Umgekehrt ließ sich Lichtenberg vom Briefpartner wissenschaftlich anregen; in der Tat bot Goethe ihm mit großer Sorgfalt eine Reihe von Anregungen, die gut zu Lichtenbergs Arbeit passten. Ja, Goethe ist möglicherweise zu anregend für ihn gewesen. Jedenfalls hat Lichtenberg es trotz gut dokumentierter Anzeichen von Begeisterung für Goethes gewagtes Projekt nicht vermocht, den Gedankenaustausch auf dem hohen Niveau fortzusetzen, das er zunächst geboten hatte. Ob der Briefwechsel am Ende aus gesundheitlichen Gründen, aus Willensschwäche oder einfach nur wegen Überarbeitung versandet ist, lässt sich den Dokumenten nicht entnehmen. Selbst die Hypothese einer wissenschaftlichen Entfremdung bleibt im Reich des Denkbaren. Unwahrscheinlich erscheint sie u.a. deshalb, weil an mindestens zwei Stellen eine Geistesverwandtschaft zwischen den beiden Protagonisten bestanden hat, die Goethe wohl ahnte und die heute angesichts damals unzugänglicher Texte deutlich in den Blick genommen werden kann: Erstens waren beide gleichermaßen von naturwissenschaftlichen Anwendungen des Polaritätsgedankens fasziniert, der seinerzeit viele neue Entdeckungen geliefert hatte und weitere verhieß; zweitens haben sie wichtige Einsichten der Wissenschaftsphilosophie des 20. Jahrhunderts vorweggenommen, etwa die Skepsis gegenüber eindeutig aus der Empirie abzulesenden Theorien und die These von der Theoriebeladenheit der Beobachtung. Goethe hatte Pech, dass diese Gemeinsamkeiten nicht vor Lichtenbergs Tod (und bis heute nicht) ans Tageslicht gekommen sind. Seine Kooperation mit Lichtenberg hätte zum Erfolg führen können; und der fatale Eindruck seiner Unbelehrsamkeit hätte sich vermeiden lassen.

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Olaf L. Müller
Humboldt-University, Berlin
Olaf L. Müller
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