Abstract
Beim eingeschränkten Fokus auf Wahrheit und dem Hervorbringen von „Beweisen“ im Kontext der türkischen Leugnung des Genozids an den ArmenierInnen wurde einem wesentlichen ethischen Problem bisher keine sonderliche Beachtung geschenkt: Dass innerhalb dieser sozial situierten, kooperativen Praxis der Etablierung von Wissen über die historischen Tatsachen – also darüber, was passiert ist und wie diese Geschehnisse zu interpretieren sind – Ungerechtigkeiten im Hinblick darauf entstehen können, wen man als glaubwürdige epistemische Akteure anerkennt. Gemäss dieser Überlegung soll dieser Beitrag zeigen, inwiefern Nachfahren von Genozidopfern durch institutionalisierte Genozidleugnung einer erneuten Dehumanisierung zum Opfer fallen, nämlich der epistemischen Ungerechtigkeit. Diese besagt, dass den Nachfahren der Opfergruppe die Glaubwürdigkeit und damit epistemische Autorität auf der Grundlage ihrer sozialen Zugehörigkeit abgesprochen wird. In diesem Sinne kann die Genozidleugnung als eine fortgesetzte Unterdrückung und Delegitimierung der Opfergruppe, respektive Herabwürdigung ihrer Mitglieder verstanden werden, diesmal im Gewand einer Aberkennung ihrer essentiellen menschlichen Fähigkeit, Wissen zu generieren und weiterzugeben, sowie ihre Unrechtserfahrungen sich und andern intelligibel zu machen.