Abstract
Zusammenfassung Die im Dezember 2022 in Kraft getretene Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes sieht vor, im Fall einer Pandemie knappe intensivmedizinische Ressourcen nach dem Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit zu priorisieren. Der Aufsatz geht der Frage nach, ob der Vorwurf, diese Regelung setze Menschen mit Behinderung einer erheblichen Diskriminierungsgefahr aus, berechtigt ist. Nach einer kurzen Darstellung des im Infektionsschutzgesetz festgelegten Zuteilungsverfahrens wird zunächst das vielschichtige Konzept der Diskriminierung erörtert. Im Kontext der Allokation knapper intensivmedizinischer Ressourcen besteht vornehmlich das Risiko einer nichtintendierten Diskriminierung, die in direkter wie auch indirekter Form erfolgen kann. Die Regelungen, die das Infektionsschutzgesetz trifft, bieten Menschen mit Behinderung einen vergleichsweise hohen Schutz vor direkter Diskriminierung. Dennoch müssen Menschen mit bestimmten Behinderungen gravierende Nachteile hinnehmen, weil sie im Fall einer COVID-19-Infektion absehbar eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit als gesunde Menschen haben. Eine indirekte Diskriminierung liegt aber nur dann vor, wenn für die Auferlegung disproportionaler Nachteile keine hinreichende Rechtfertigung angeführt werden kann. In modernen pluralistischen Gesellschaften, die durch tiefgreifende Wertkonflikte gekennzeichnet sind, sollten unterschiedliche ethische Theorien – darunter auch konsequentialistische Positionen – als mögliche Grundlage einer Rechtfertigung anerkannt werden. Im Ergebnis erweist sich der Vorwurf, eine am Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit orientierte Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen bewirke eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, als nicht stichhaltig.