Dissertation, Universität Gesamthochschule Kassel (
2000)
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Abstract
Der normative Gehalt des Subsidiaritätsprinzips und seine Bedeutung für die Politische und Soziale Union Europas (S. 201-203)
1. Die Entwicklung des Maßstabs normativer Subsidiarität im ersten Kapitel beruht auf der Erkenntnis, dass dem Subsidiaritätsprinzip insbesondere von seinen protestantischen Wurzeln und seiner Ausprägung in der katholischen Soziallehre her ein spezifisch normativer Kerngehalt innewohnt, der als Idee auch dem Grundgesetzt als zwar weltanschaulich neutraler, aber nicht wertneutraler politischer Ordnung zugrunde liegt. Ausgehend von einem Menschenbild, das christliche Personalität und gesellschaftliche Solidarität umfasst, setzt der materiale Gehalt des Subsidiaritätsprinzip insofern Grenzen, "als die Legitimation einer politischen Gemeinschaft nur von der Einzelperson im Sinne des individualistischen Liberalismus erfolgen kann und als die Anwendung des Subsidiaritätspinzips der Solidarität sozialer Einheiten bedarf.
2. Das ursprünglich von den deutschen Ländern anvisierte Ziel einer Verankerung des Strukturprinzips des Föderalismus im Vorfeld des Maastrichter Vertrages, ergänzt um das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip der Kompetenzausübung, scheiterte am Widerstand Großbritanniens. Die Briten setzten das föderative Prinzip mit einem zentralistischen Bundesstaat gleich, den sie auf jeden Fall verhindern wollten. Fortan verbanden die Deutschen, insbesondere die deutschen Länder und Bundesregierung mit Unterstützung der beiden großen Kirchen einschließlich der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, mit dem Subsidiaritätsprinzip neben einer Föderalisierung der Europäischen Union auch das Ziel, die Gesundheits- und Sozialpolitik auf europäischer Ebene auszubauen. Wenig später, schon im Verlauf der der Ratifikation des Vertrages, wird das Subsidiaritätsprinzip seitens der Bundesregierung und der deutschen Länder auf den Vorrang der der unteren Ebene umgemünzt.
3. Parallel zum Subsidiaritätsstreit in den 60er Jahren wird die Nähe zur Person bzw. zum Bürger instrumentalisiert, um dem Subsidiaritätsbegriff den Inhalt zu geben, der aus machtpolitischen Interessen opportun erscheint. Im innerdeutschen Subsidiaritätssstreit der 60er Jahre wurde die funktionale Dimension des Prinzips in den Vordergrund gedrängt, wohingegen seit 1993 seitens der Bundesregierung und der deutschen Länder im europäischen Kontext die territoriale Dimension des Prinzips, die sich gegen europäische Institutionen als Inbegriff bürgerferner, nicht demokratisch legitimierter Politik richtet, hervorgehoben wird. In beiden Fällen geht die aus Gründen normativer Subsidiarität gebotene Balance zwischen Identität und Funktion, zwischen Demokratie und Effizienz, verloren.
4. In den 60er Jahren haben die Verbände der freien Wohlfahrtspflege ihre Freiheit gegen Staatsnähe eingetauscht. Daraus entstanden neo-korporatistische Strukturen, die die Verbände zu mächtigen Trägern sozialer Dienstleistungen werden ließen. Die Rolle der Verbände als intermediäres Bindeglied zwischen Bürger und Staat wurde vernachlässigt.
5. In den 90er Jahren im europäischen Kontext die funktionale Dimension des Subsidiaritätsprinzip auf den territorialen Rahmen der Mitgliedstaaten zurecht gestutzt. Im Vordergrund steht nicht die bestmögliche Lösung eines Problems. Man gibt sich mit der vermeintlich "ausreichenden" Lösung auf mitgliedsstaatlicher Ebene zufrieden. Die systematische Auslegung, die im Hinblick auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft von besonderer Bedeutung ist, ergibt hingegen, "dass das Subsidiaritätspinzip als Kompetenzausübungsprinzip verfasst ist und zweitens, dass eine Entscheidung sowohl auf der Ebene der Gemeinschaft als auch auf Ebene der Mitgliedstaaten bürgernah sein kann." Deutlich tritt hier die Kluft zwischen rechtlicher Konzeption, die Ausdruck universeller Geltung des Prinzips ist, und verfolgten politischen Eigeninteressen der Akteure hervor.
6. Wenngleich bei den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege, insbesondere den kirchlichen, der Territorialaspekt des Subsidiaritätsprinzips dominiert, gibt es Anzeichen dafür, dass die Überzeugung wächst, dass ohne eine sachbezogene, auf weitere Integration gerichtete Europapolitik auch die drei Wohlfahrtspflege in Deutschland nicht aufrechtzuerhalten ist. So vertreten die kirchlichen Verbände im Rahmen einer von der Kommission initiierten Konsultation zu Armut und Ausgrenzung in Europa die Ansicht, dass eine Lösung auf mitgliedsstaatlicher Ebene nicht ausreichend sei. In welcher Form die sozialpolitische Verantwortung auf europäischer Ebene wahrgenommen werden soll, bleibt offen.
7. Weder das Hervorheben der Nation als die maßgebliche territoriale Größe, die ihren Bürgern Schutz und Sicherheit bieten kann, noch die Vorstellung, Europas Vielfalt durch die Mobilisierung der Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft erhalten zu können, bieten Perspektiven, das Demokratie-Effizienz-Dilemma zu überwinden.
8. Der Erhalt europäischer Demokratien ist ohne das Herausbilden transnationaler Formen von Demokratie nicht denkbar. Denn der Nationalstaat allein kann die Substanz der Demokratie nicht gewährleisten. Der nationale Wohlfahrtsstaat wird ausgehöhlt. Übrig bleibt die leere Hülle nationaler Souveränität.
9. Aussicht bietet eine zivilgesellschaftliche Verschränkung von Politik und Gesellschaft. Repräsentative nationale Akteure kooperieren zur Erfüllung einer europäischen Aufgabe und entwickeln daraus eine europäische Identität. Aufgrund ihrer assoziativen Funktion sind hier vor allem zivilgesellschaftliche Akteure gefragt. Hier eröffnet sich den Wohlfahrtsverbänden die Chance, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen und verstärkt ihre Rolle in der Gesellschaft wahrzunehmen, um sich so die Position der Repräsentativität nachhaltig zu sichern.
10. Eine gleichgewichtige funktionale Repräsentation wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Interessen einschließlich Repräsentationsmonopol und Mitverantwortung für die ausgehandelten Ergebnisse kann einen Beitrag zur Behebung des europäischen Demokratiedefizit leisten. Dies setzt voraus, dass die Europäische Union staatsähnliche Eigenschaften ausbildet, die sie dazu befähigt, Verhandlungsgleichgewichte zwischen den Repräsentanten der verschiedenen Interessen herzustellen und autonom über Umverteilungsfragen zu entscheiden und eine entsprechende Politik auch durchzusetzen.