Kevin J. Mitchell: Free Agents – How Evolution Gave Us Free Will. Gebunden, 333 Seiten. Princeton University Press, Princeton & Oxford 2023. Literaturhinweis. [Book Review]

Aphin 31 (2024/1):21-23 (2024)
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Abstract

In seinem Buch "Free Agents" stellt der Neurowissenschaftler und Evolutionsgenetiker Kevin Mitchell ein evolutionäres Erklärungsmodell für den freien Willen vor. Aus philosophischer Sicht relevant ist das Buch vor allem, weil es ein zentrales Credo der aktuellen Freiheits-Debatte in Frage stellt, nämlich die Auffassung, ein naturwissenschaftlich vertretbares Freiheitsverständnis müsse mit dem Determinismus im Einklang stehen. Mitchell geht auf Distanz zum Kompatibilismus und nimmt mit naturwissenschaftlicher Argumentation für die libertarische Gegenposition Partei (auch wenn er selbst diesen Ausdruck nicht verwendet). Sein Buch ist zweifellos das bisher umfassendste Werk dieser Art, und seine durchwegs nachvollziehbar aufgebaute Argumentation wird mit viel empirischer Evidenz aus Physik, Biochemie und Evolutionsbiologie unterlegt. Das zentrale Element seines Ansatzes ist die Qualifizierung lebender Organismen als Akteure. Alle Lebewesen sind gemäß Mitchell "autonomous entities, imbued with purpose and able to act on their own terms" (19). Rund die Hälfte seines Buches widmet Mitchell dem Thema, wie sich die Fähigkeiten der Lebewesen als Akteure im Laufe der Evolutionsgeschichte entwickelt und ausdifferenziert haben. Er zeigt Schritt für Schritt auf, wie aus der Sensorik und Bewegungssteuerung niedriger Organismen immer raffiniertere Formen der Verhaltenssteuerung mithilfe von Nervensystemen erwuchsen. Auf dieser Basis kommt er dann etwa in der Mitte seines Buches eingehend auf den Determinismus zu sprechen, und er weist diesen mit überzeugenden Argumenten einschließlich seiner kompatibilistischen Spielart zurück, und mit ihm zusammen gleich auch den Reduktionismus. Unbestimmtheit und Naturgesetzlichkeit schließen sich gemäß Mitchell keineswegs aus, und entscheidend ist für ihn, dass in komplexen Systemen die physikalischen Elementarvorgänge die Dynamik und Entwicklung des Gesamtsystems nicht vollständig determinieren: Sie sind nicht "causally comprehensive" (280). Unbestimmtheit scheint damit ein Element der Natur zu sein, welches Gesetzmäßigkeiten höherer Ordnung überhaupt erst möglich macht. Dies gilt sowohl für den auf Variation und Selektion beruhenden Evolutionsprozess als Ganzes, als auch für die durch ihn entstandene Fähigkeit tierischer Lebewesen zur zielgerichteten Steuerung ihres Verhaltens. Freies Handeln wird so gesehen zur am höchsten entwickelten Form der Fähigkeit, sich die wegen der Unbestimmtheit in der Natur vorhandenen Spielräume zu Nutze zu machen (harnessing indeterminacy). Die oft als naturgesetzlich unmöglich gebrandmarkte Vorstellung einer top-down wirkenden Akteurkausalität (agent causation) wird in Mitchells systembasiertem Erklärungsansatz zum naturwissenschaftlich erklärbaren Phänomen, und das gleiche gilt dementsprechend auch für die Freiheit nach libertarischem Verständnis. Wichtig zu erwähnen ist schließlich noch, dass Mitchell darunter keineswegs eine unbedingte Freiheit versteht, nicht "some nebulous, spooky, mystical property granted to us by the gods", sondern schlicht und einfach "an evolved biological function that depends on the proper functioning of a distributed set of neural resources" (282), welche uns die Fähigkeit zur bewussten und rationalen Kontrolle über unsere Handlungen verleiht - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Bis jetzt hat Mitchells Buch vor allem im Leserkreis naturwissenschaftlicher Sachbuchliteratur Anklang gefunden. Darüber hinaus ist es aber schlichtweg allen zu empfehlen, die am Thema Willensfreiheit interessiert sind, und fast noch mehr denjenigen, die von diesem Thema genug haben in der Meinung, dazu ließe sich ohnehin nichts Neues mehr sagen. Vor allem ist aber zu hoffen, dass das Buch auch seinen Weg in das philosophische Seminar an Hochschulen findet, wo es den Schriften Daniel Dennetts, des wohl berühmtesten Kompatibilisten, gegenübergestellt werden sollte, denn der Vergleich ist interessant, weil dessen evolutionsbasierter Naturalismus abgesehen von den fundamentalen Differenzen bezüglich Determinismus und Reduktionismus demjenigen Mitchells gar nicht so unähnlich ist.

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2024-02-28

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