Das politische Triebmodell Nietzsches als Gegenmodell zu Schopenhauers Metaphysik des blinden Willens

In Jutta Georg & Claus Zittel (eds.), Nietzsches Philosophie des Unbewussten. Walter de Gruyter. pp. 147-156 (2012)
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Abstract

Ziel meines Beitrages ist die These zu vertreten, dass das Triebmodell Nietzsches durch eine Auseinandersetzung mit dem schopenhauerianischen Prinzip des Willens zum Leben entwickelt wurde. Dieses Modell lässt sich als einen durchgehenden Versuch interpretieren, mit den begrifflichen Schwierigkeiten der Willensmetaphysik Schopenhauers umzugehen, die Nietzsche bereits im Jahre 1868 in der Leipziger Aufzeichnungen identifiziert hat. Was Nietzsche für besonderes verwerflich an dem Projekt Schopenhauers einer post-Kantischen Metaphysik hält, das ist im Wesentliche die Tatsache, dass er bei Durchführung dieses Projektes den alten Dualismus von Leib und Seele durch einen neuen Dualismus, der Dualismus von Willen und Vorstellung, bzw. Willen und Verstand ersetzt hat. Der neue Dualismus Schopenhauers resultiert aus einer Reform unseres vorreflexiven Willensbegriffes. Bei dieser Reform habe Schopenhauer, so Nietzsche, die intentionale Qualität des Wollens „heraus subtrahirt“, so dass was „er ‚Wille‘ nennt“ „ein blosses leeres Wort“ sei (KSA, 13, 14[121], S. 301). Noch wichtiger als die Pluralität ist in Nietzsches Augen die Intentionalität, die als ein wesentliches Merkmal des Willensbegriffes gilt. Wollen und Vorstellen sind nicht ‚losgetrennt zu denken‘; von Wollen zu reden „ohne von vornherein einen Intellekt anzunehmen, der sich vorstellen konnte was man will“ macht keinen Sinn, weil „einen solchen Willen in’s Blaue (oder in’s Dasein!) giebt es nicht“ (KSA, 9, 4[310], S. 178). Das Triebmodell Nietzsches ist eine begriffliche Entfaltung dieser prinzipiellen Nicht-Übereinstimmung. Während Schopenhauer seine Willensmetaphysik aus dem Modell des Begehrens konzipiert, dem zufolge „wir werden durch unsere Begierden gelenkt: nicht durch unsere nützlichen und vernünftigen Interessen, geschweige durch unsere Tugend und Weisheit“ (KSA, 9, 5[27], S. 187), hat Nietzsche sich entschieden, „sich der Analogie des Menschen zu Ende [zu] bedienen“ (KSA, 11, 36[31], S. 563), d. h., bei seiner theoretischen Philosophie eine Anthropomorphisierungsstrategie zu verfolgen. Diese Strategie kann insoweit legitimiert werden, als man fähig ist, unser menschliches Bild von moralischen Vorstellungen und Gefühle zu befreien und „den Menschen nämlich zurück[zu]übersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr [zu]werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden [...]“ (JGB, 230). Ein realistisch konzipiertes politisches Modell, wobei die Macht als Hauptbegriff auftritt, erlaubt Nietzsche unser triebhaftes Leben zu beschreiben, ohne unsere nützlichen und vernünftigen Interessen, unsere Tugend, Weisheit und Dummheit, unsere kompromiss- und vertragsfähige Natur ausklammern zu müssen. Zum Schluss unseres Beitrages wird die Frage gestellt, inwieweit das aus dem politischen Bereich konzipierte Triebmodell zu dem sogenannten Homunkulus-Fehlschluss führt und inwieweit diese Art von Fehlschluss zu vermeiden ist.

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Rogerio Lopes
Federal University of Minas Gerais

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2023-05-04

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