Pazifismus mit offenen Augen

In Jean-Daniel Strub & Stefan Grotefeld (eds.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs. Stuttgart, Deutschland: Kohlhammer. pp. 23-59 (2007)
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Abstract

Pazifisten und deren Gegner streiten sich meist nicht bloss über moralische, sondern auch über faktisch-deskriptive Fragen. Zum Beispiel sind beide Seiten bei der Kosovo-Krise (1998/9) zu völlig entgegengesetzten Beschreibungen gekommen. Laut meiner Rekonstruktion des Pazifismus ist das keine Überraschung, weil der Pazifist die Fakten legitimerweise im Lichte seines Systems von Werten betrachtet. Seine Gegnerin betrachtet die Fakten dagegen im Lichte eines alternativen Wertsystems, und der Streit zwischen den beiden Parteien, der sich angeblich auf wertfrei deskriptivem Boden bewegt, kommt zu keinem Ende, weil es keine objektiven Tatsachen aus dem betreffenden Krieg gibt, die den Streit für die eine oder die andere Seite eindeutig entscheiden könnten. Wenn ich recht habe, lässt sich die wertbeladene Weltsicht des Pazifisten als eine Befolgung dreier epistemischer Imperative verstehen: Erstens befolgt er den epistemischen Imperativ zur Natur des Menschen ("Wehre Dich gegen Dämonisierungen der Gegenseite; versuche immer, den Fall aus der Sicht der Gegenseite zu verstehen"). Zweitens befolgt er den epistemischen Imperativ zugunsten friedfertiger Alternativen ("Suche immer nach friedfertigen Alternativen zum geplanten Militäreinsatz"). Und drittens befolgt er den epistemischen Imperativ bezüglich unkontrollierbarer Eskalation ("Schärfe deinen Blick für unkontrollierbare, irreversible Nebenfolgen des militärischen Einsatzes, und achte besonders auf die Gefahr, dass ein weiterer Weltkrieg ausbrechen könnte"). Nicht die objektive Realität entscheidet darüber, wie weit man bei der Befolgung dieser Imperative gehen sollte. Die Entscheidung hängt vielmehr von uns selbst ab – so ähnlich wie im Fall einer Naturwissenschaftlerin, die sich dafür entscheidet, hinter dem Chaos des Mannigfaltigen noch nach einer gemeinsamen Tiefenstruktur zu suchen. Diese Parallele hat eine überraschende Konsequenz. Die epistemischen Imperative des Pazifisten können mit Kants regulativen Prinzipien verglichen werden, die laut Kant notwendig sind, um unseren naturwissenschaftlichen Untersuchungen eine Orientierung zu geben. Und wenn sich also die Erkenntnismethode des Pazifisten in entscheidender Hinsicht nicht von der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode unterscheidet, dann verdienen die Pazifisten einen Vorwurf ganz sicher nicht: den Vorwurf, auf irrationale Weise blind zu sein für die harten Wirklichkeiten. Selbst wer den Pazifismus ablehnt, sollte ihm nicht den intellektuellen Respekt verweigern. Dass der Pazifismus in der Tat eine attraktive Position darstellt, werde ich am Ende meiner Überlegungen plausibel zu machen versuchen.

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Olaf L. Müller
Humboldt University, Berlin

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2022-04-25

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