Empirische Ästhetik: Kognitiv-semiotische Prozesse der Wirklichkeits-Konstruktion in Alltag, Kunst und Design

Hamburg: Verlag Dr. Kovac (2016)
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Abstract

Teil I »Psychologische Ästhetik für transdisziplinäres Design« Kapitel I »Empirische Ästhetik – Der Konflikt zwischen leichter Verarbeitbarkeit, sparsamer Codierung und neuronaler Aktivierung im Beobachtersystem. Eine Untersuchung über das Wesen der ästhetischen Erfahrung. Jede Designpraxis verlangt täglich eine Vielzahl von Entscheidungen, welche die Wahl von „Etwas vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten“ darstellen. Diese lassen sich als Probleme einer Präferenz-Ästhetik interpretieren, wobei innerhalb eines Repertoires von Alternativen die attraktivste gewählt wird. Eine empirische Ästhetik ist somit ein notwendiger Bestandteil von Designtheorie. Die Überlegung, wer in welcher Situation warum was bevorzugt, führt zur Forschungsfrage: »Was ist der elementare Mechanismus für eine ästhetische Erfahrung?« In der Literatur zur empirischen Ästhetik finden sich vier wesentliche Theorie-Gruppen: (1.) Es wird eine Präferenz für einfach zu verarbeitende Stimuli behauptet und z.B. mit der Processing Fluency begründet. (2.) Andere Ansätze erklären eine maximale Stimulation des Beobachters durch komplexe Objekte zum Ideal, was auch die ästhetische Erfahrung maximieren soll. (3.) Eine dritte Gruppe vermeidet die Probleme der ersten beiden, indem eine mittlere Komplexität als Präferenz behauptet wird. (4.) Und schließlich gibt es Ansätze, die auf eine integrierende Theorie letztlich verzichten und einzelne Phänomene bzw. Effekte katalogisieren. Eine Liste ungelöster Probleme formuliert die Minimal-Anforderungen an eine integrierende Theorie. Hiermit wird geprüft, ob bzw. inwieweit die Integrative Ästhetik von Schwarzfischer (2008 und 2014) jene Probleme lösen kann. Dieser Ansatz schlägt spezifische Re-Codierungs-Prozesse als basalen Mechanismus jeder ästhetischen Erfahrung vor. Hierzu wird ein Prozess-Modell entwickelt, welches die Integrative Ästhetik überprüfbar macht. Bei der Modellbildung werden manche Konzepte der Integrativen Ästhetik erweitert und andere präzisiert. Auch die Anwendungsmöglichkeiten werden durch das Modell vielfältiger, da es nicht nur als Erklärungsmodell, sondern zudem als Gestaltungsmodell einsetzbar ist. Insgesamt zeigt die Überprüfung der Integrativen Ästhetik und des Modells, dass die Gütekriterien in einem vielversprechenden Maß erfüllt werden. Die grundsätzliche Quantifizierbarkeit wird aufgezeigt sowie die Relevanz und die Anwendbarkeit für das Design nachgewiesen. Die Forschungsfrage kann somit als hinreichend beantwortet gelten: »Der elementare Mechanismus für eine ästhetische Erfahrung scheint ein Re-Codierungs-Prozess zu sein (der auf der Nutzung von In­varianzen basiert), welcher extensionale Daten zu intensionalen Gestalten transformiert, wobei eine Ressourcen-Entlastung stattfindet und der Gültigkeitsbereich der Codierung erweitert wird (was nach Jean Piaget als Dezentrierung bezeichnet wird) – was jeweils durch eine ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ festgestellt wird.« Teil II »Transdisziplinäre Ästhetik im Dialog« Kapitel II.A »Profane und heroische Beobachtungs-Experimente: Kunst-Ästhetik als methodisches Artefakt.« Es reicht nicht, eine Liste mit vorgeblich ‚schönen Dingen‘ zu erstellen, um ‚das Schöne‘ zu verstehen. Piaget & Garcia (1989) unterscheiden drei Stufen in jedem Erkenntnis-Prozess: 1. isolierte Fakten, die unabhängig von einander analysiert werden; 2. konkrete Transformationen, durch welche diese Fakten mit einander verbunden sind; 3. eine Struktur, die alle denkbaren Fälle konstruierbar macht. Sie nannten diese drei Stufen ‚intra‘, ‚inter‘ und ‚trans‘. Dies kann auf das ‚höhere Erkenntnisvermögen‘ angewandt werden wie auf das ‚niedere‘. Wissenschaftlichkeit setzt nach Popper die Falsifizierbarkeit einer Theorie voraus – und damit Prognosefähigkeit. Prognosen müssen über den Bereich der bereits bekannten Fälle hinausgehen, und finden sich folglich primär in der Piaget-Phase ‚trans‘. Diese ist davon gekennzeichnet, dass es über die Gegenstände hinausgeht (‚trans-objekt‘). Zu häufig werden Artefakte nur beschrieben (‚intra-objekt‘) oder einzelne, zufällig bekannte Transformationen von Material in Artefakte bzw. von Artefakt in Verständnis aufgezählt (‚inter-objekt‘). Erst eine ‚Integrative Ästhetik‘ jenseits von zufälligen Semantiken, jenseits von sozialen Exklusions-Rhetoriken der Künstler und der ‚Leisure-Class-Eliten‘ (nach Veblen) und jenseits der Hierarchisierung von Wahrnehmungs-Modi kann den Anspruch einlösen (‚trans-objekt‘). Daraus folgen u.a. separierbare Semantiken spezifischem Maßstabs, die sich überhaupt erst dann z.B. als ‚konventionelle Kunst-Auffassung‘ beobachten lassen. Zentrierungen auf solche Semantiken können demnach „als Kunst missverstanden werden“ – obwohl sie keineswegs das allgemeine Prinzip repräsentieren, sondern stets nur Spezial­fall bleiben. Kapitel II.B »Das Gehirn als Hypothesenmaschine – Ästhetische Prozesse als Selbst-Test im Beobachter-System.« Die historische Trennung zwischen Techne, Poiesis und Aisthesis scheint nach der „konstruktivistischen Wende“ obsolet geworden zu sein. Jede Beobachtung kann als Handlung betrachtet werden und setzt adaptive Aspekte schon voraus. Jedoch fehlte bislang eine tragfähige konstruktivistische Ästhetik, deren Gültigkeitsbereich hinreichend groß ist: So ist die Beschränkung auf Kunst ebenso unnötig wie jene auf Kommunikation in sozialen Systemen (also auf „Kunst-Diskurse“) oder auf eine Produktions-, Werk- bzw. Rezeptions-Ästhetik. Die definitorische Auflösung des Kunst-Begriffes (z.B. bei Gernot Böhme) löst diese Schwierigkeiten nicht. Im Wesentlichen bleibt die resultierende phänomenologische Ästhetik eine Rezeptions-Ästhetik. Ähnlich begrenzt bleibt der Anwendungsbereich der Informations-Ästhetik mit kybernetischen Wurzeln. Auch die Einbettung in eine evolutionäre Ästhetik oder Neuroästhetik scheint problematisch. Daher muss eine „Integrative Ästhetik“ sehr unterschiedliche Sichtweisen in sich vereinigen. Inzwischen klassisch zu nennende kybernetische, systemtheoretische oder informations-ästhetische Ansätze verwenden meist die Logik einer Bottom-Up-Verarbeitung (Input-Processing-Output), wie sie auch die kognitive Psychologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte. Dass laut Schlicht et al. (2013: S.475) selbst im visuellen Kortex nur ca. 5% der neuronalen Verknüpfungen bottom-up verschaltet sind (und der „Rest” von 95% top-down oder lateral arbeitet), stellt auch die empirische Ästhetik vor Probleme. Dieser Beitrag stellt jene Integrative Ästhetik vor, welche diese Antworten auf diese Fragen zu geben vermag – und den genannten Beschränkungen nicht unterliegt. Der elementare Prozess einer ästhetischen Erfahrung besteht hier in einer Re-Codierung von extensionalen Daten zu intensionalen Codierungen. Durch die sparsamere Codierung stellt dies eine erhebliche neuronale Entlastung dar und erhöht zudem beträchtlich den Gültigkeitsbereich des Codierten. Vom Beobachter-System wird dies subjektiv als Dezentrierung (nach Piaget) positiv erlebt. Zentral ist, dass es nun mit einem einheitlichen methodischen Rahmen möglich ist, entweder bottom-up die Wahrnehmung zu analysieren oder top-down die subjektive Motivation (z.B. die erlebte Autonomie oder die erlebte Entlastung) des Akteurs zu thematisieren. Die Richtung der Prozesse wird umkehrbar. Zudem wird die konstruktivistische Wahrnehmungs-Handlung zu einer Art von Selbst-Test des Wahrnehmungs-Systems: „Funktioniere ich sensorisch und kognitiv überhaupt? Funktioniere ich korrekt, also konsistent? Und, funktioniere ich effizient?“ Kapitel II.C »Beobachtende Systeme – Dezentrierende Gestalt-Integration als Basis einer Ästhetik des Alltags.« An der ästhetischen Erfahrung irritiert traditionell, dass der Effekt bekannt ist, nicht aber die Ursachen und der funktionale Mechanismus. Dies leistete Mystifikationen Vorschub, was zu diversen metaphysischen Kunst-Ästhetiken führte: Der Künstler als Schamane oder Magier. Dieser Beitrag möchte dagegen einen systemsemiotischen Ansatz für eine empirische Ästhetik vorstellen. Die aktive Rolle des Beobachters im Wirkungszusammenhang soll den Blinden Fleck erhellen, aufgrund dessen sich das Phantom eines passiven Rezipienten und „quasi-aktiver“ ästhetischer Objekte so hartnäckig halten konnte. Ausgehend von gestalttheoretischen Überlegungen wird Gestalt als implizite, algorithmische Codierung begriffen. Neuere empirische Ergebnisse der „Neuro-Ökonomie“ postulieren einen Effekt der „kortikalen Entlastung“ (bei der Forschung nach der Wirkung von Marken). Der hier vertretene Ansatz verknüpft nun beide Aspekte und glaubt, daraus eine konsistente Theorie für die empirische Ästhetik des Alltags entwickeln zu können. Es muss jedoch ein weiterer Aspekt hinzu genommen werden, den Piaget „Dezentrierung“ nennt. Ästhetische Erfahrung wird dann definierbar als das Erlebnis eines Umcodierungs-Prozesses – oder genauer: als das Erlebnis einer dezentrierenden Gestalt-Integration durch das beobachtende System. Sowohl beobachtende Systeme als auch Gestalt-Integrationen sind in unserem Ansatz als multiple zu denken. Eine semiotische Differenzierung ist nun entscheidend: Die herkömmliche Informations-Ästhetik thematisierte nur die syntaktischen Aspekte des Stimulus, ohne den Beobachter in seiner aktiven Rolle zu begreifen. Gestalt-Integrationen samt deren dezentrierender Wirkung sind jedoch auch in semantischer und pragmatischer Hinsicht zu finden. Diese werden im Beitrag dargelegt. Denn erst so kann die Vielschichtigkeit ästhetischer Erfahrungen erklärt werden, wo z.B. syntaktische und pragmatische Aspekte konkurrieren können. Auch vordergründig destruktive Akte und Artefakte sind dann als Gestalt-Integrationen anderer Dimensionen oder differierender Bezugssysteme begreifbar. (Dies streift etwa auch Fragen der Ressourcen-Allokation.) Zudem muss die Kontingenz von Beobachtungs-Maßstäben, Wahrnehmungs-Modi, Struktur-Determinanten (des beobachtenden Systems) und kultur-semiotischen Prägungen mit in Betracht gezogen werden. Erst hierdurch wird der Möglichkeitsraum potenzieller Gestalt-Integrationen (der eigentlich aus einem präsentationalen und einem repräsentationalen Raum besteht) prinzipiell beschreibbar. Wenn auch die Probleme bzw. Grenzen der praktischen Durchführbarkeit entsprechender Analysen nicht unterschlagen werden sollen: Die Möglichkeiten entsprechen gut den Erfordernissen zur ästhetischen Analyse des menschlichen Alltages – schließen die Lebenswelten von nicht-anthropozentrischen Seinsformen aber wohl methodisch aus. Dieser Beitrag möchte ich primär eine empirische Ästhetik zur Diskussion stellen, die mir als Rahmen für die weitere Forschung sehr leistungsfähig erscheint. Und doch ist nichts weniger als ein theoriebildender Ansatz das Vorhaben. Eine der Konsequenzen aus diesem Ansatz ist die These, dass es sich bei Kants Diktum vom „interesselosen Wohlgefallen“ zwar für das Individuum um ein Apriori handelt, bei der Gattung Mensch jedoch evolutionär um ein Aposteriori.

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Klaus Schwarzfischer
University Tübingen (PhD)

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2022-12-11

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