Abstract
“Denn das Maß der Widerwärtigkeiten und Schlechtigkeiten wird augenblicklich wieder durch neue aufgefüllt, als glitte das eine Bein der Welt immer wieder zurück, wenn sich das andere vorschiebt. Daran müßte man die Ursache und den Geheimmechanismus erkennen!” (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, I, 27) Die Frage, ob Evolution eine Fortschrittskomponente beinhalte, oder zumindest einen Trend zur Komplexität der Organismen oder der Ökosysteme, beschäftigt nicht nur Romanschreiber, sondern Biologen wie Philosophen (Ruse 1993). Ist Anpassung ein Schritt vorwärts? Wovon weg - worauf zu? Ist der komplexere Organismus besser an seine Umwelt angepaßt? Wenn ja, was sind die Konsequenzen und Kosten solchen Fortschritts? Ludwig von Bertalanffy wunderte sich über den Sinn eines evolutionären Dramas, in dem das Leben sich umständlich immer höher schraubt, um für jede erreichte Ebene einen neuen Preis zu zahlen: für Vielzelligkeit den Tod des Individuums, für das Nervensystem den Schmerz, für das Bewußtsein die Angst (Davidson 1983). Daß Evolution nicht, wie man lange glauben wollte, partout der Komplexität zustrebt, zeigt sich am Verlust der Flugfähigkeit bei vielen Inselvögeln in Abwesenheit terrestrischer Räuber, oder an der strukturellen Vereinfachung der meisten Parasiten, wird aber besonders deutlich in den klassischen Experimenten von Spiegelman (1967). Spiegelman inkubierte die RNA eines Virus in einer konstant gehaltenen Brühe aus freien Monomeren und Replikase. Unter artifizieller Selektion für rapide Reproduktion etablierte sich in diesem Experiment nach nur 75 Generationen eine stabile Mutante, die sich zwar fünfzehnmal so schnell vermehrte, sich aber von ursprünglich 4200 Nukleotiden auf nur mehr 220 reduziert hatte, nicht viel mehr als die Erkennungsstelle für die Replikase. Im Schlaraffenland, wo Ressourcen nie weniger werden, Abfälle sich nie anhäufen und Feinde nicht existieren, in einer Umwelt also, in welcher der Organismus weder bedroht noch von den Rückwirkungen seiner eigenen Handlungen betroffen wird, verläuft die Evolution anscheinend nicht in Richtung auf zunehmende Größe und Komplexität, wie dies Bonner (1988) für die reale Welt zu zeigen versuchte, sondern genau umgekehrt. Ich werde im folgenden eine Antwort auf dieses Paradoxon skizzieren, die aus den folgenden Thesen besteht: 1. Jeder Adaptivschritt eines evoluierenden Organismus zieht einen Komplementärschritt seiner unbelebten und seiner belebten Umwelt nach sich. Die Umwelt weicht vom sich adaptierenden Organismus zurück. Der Organismus von heute ist an die Umwelt von gestern angepaßt. 2. Während die unbelebte Umwelt lediglich in passiver Weise auf das energetische Vordringen des Organismus reagiert, sind Wechselwirkungen zwischen Organismus und belebter Umwelt, also anderen Organismen, teleonomisch. Wechselwirkungen, die im Energiefluß asymmetrisch sind (wie zum Beispiel zwischen Räuber und Beute), sind im Informationsfluß komplementär asymmetrisch. In dem Maße wie Energie zum erfolgreichen Räuber fließt, fließt Information zur erfolgreichen Beute. Der Räuber von heute erbt das Beutebild von gestern. 3. Einmalige Individualität, das Resultat sexueller Fortpflanzung, vermittelt diese asymmetrische Rückkoppelung und puffert die daraus resultierende zeitverschobene Eskalation. Der Trend zur Individualisierung ist selbstverstärkend und führt zu zunehmender räumlicher und zeitlicher Komplexität von Organismen und Umwelten. Individualität ist die stärkste Triebfeder in der Gestaltung der Biosphäre.