Abstract
In seinen frühen Arbeiten setzt Herder regelmäßig die Proteusfigur ein, um die geschichtlichen Verwandlungen des Menschen und der Produkte des menschlichen Geistes zu schildern. Die Figur scheint zunächst in eine skeptische oder auch relativistische Richtung zu weisen (und wurde in Interpretationen von Herders Frühwerk oft so gedeutet). Eine textnahe Lektüre der Herderschen Verwendung der Figur und eine Analyse seiner Anknüpfungen an die Rezeptionsgeschichte des Proteus-Mythos ergeben aber ein anderes Bild. Sich auf Nebenbedeutungen der Proteusfigur wie die ‚Urmaterie‘ und die ‚Divination‘ stützend, verweist Herder gerade mit dieser Figur auf die Einheit in der Vielheit.
In dieser Arbeit werden, nach einer kurzen historischen Darstellung der verschiedenen Deutungen der Proteusfigur, drei Methoden identifiziert und analysiert, die Herder anwendet, um anhand von Proteus die Einheit in der Vielheit einsichtig zu machen. Erstens geht es um den Versuch, anhand von Analogien die Verbindung aller historischen Gestalten der Menschheit aufzudecken. Zweitens wird erklärt, wie Herder durch die genetische Erklärung der Ursachen der historischen Verwandlung von menschlichen Sprachen und Kulturformen sich ihrer gegenwärtigen Form verstehend annähert. Drittens spielt Proteus eine wichtige Rolle in Herders Verständnis der Endlichkeit und Plastizität der menschlichen Natur sowie ihrer providentiellen Bildung durch die ganze Weltgeschichte hindurch. Gemeinsam ist den drei Strategien, dass Herder stets eine doppelte Polemik, sowohl gegen den Pyrrhonismus als auch gegen den Ethnozentrismus, führt. Die Hauptthese dieser Arbeit lautet, dass Proteus für Herder eine geeignete Denkfigur darstellt, um die Fehler beider Positionen zu vermeiden. Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass nicht nur die Einheit und die Vielheit, sondern auch die anthropologischen und theologischen Aspekte von Herders Frühwerk auf diese Weise zusammengedacht werden können.