Abstract
Phänomenologie intendiert allgemein eine Beschreibung und intersubjektiv nachvollziehbare Analyse der in einer konkreten Situation sich erschließenden Phänomene des menschlichen Bewußtseins. Klinische Phänomenologie hat darüber hinaus die therapeutische Situation zu berücksichtigen. Im Folgenden wird die These vertreten, daß die psychische Verfassung eines Menschen niemals allein aufgrund einer rein phänomenologischen Analyse auf alle praktisch und therapeutisch relevanten Konsequenzen hin ergründet werden kann. Das kann insbesondere dann nicht der Fall sein, wenn sich solche Konsequenzen aus einem außerhalb der konkreten Situation gewonnenen, empirisch verallgemeinerbaren psychopathologischen Wissen ergeben. Die Integration wird am ehesten dadurch ermöglicht, dass in einer vorausgehenden Analyse der therapeutischen Situation unterschiedliche "Sinnebenen" beachtet werden. Mit einem solchen klinisch-phänomenologischen Ansatz ist die reine Phänomenologie der Bewußtseinsphänomene überschritten, jedoch ergibt sich eben dadurch die Möglichkeit, die jeder praxisbezogenen Wissenschaft inhärenten "Aporien der praktischen Vernunft" darzulegen. Ohne eine solche vorausgehende Analyse der therapeutischen Situation bleibt die Gefahr einer subjektivitischen oder auch objektivistischen Vereinseitigung der Positionen bestehen, wie wir sie aus der jüngeren Psychiatriegeschichte kennen. Um eine Urteils-, Entscheidungs- und Handlungskompetenz im Bereich der klinischen Psychiatrie zu gewährleisten, bedarf es zusätzlich ethischer Maßstäbe und Kriterien, die sich auf der Grundlage eines von dogmatischen Vorstellungen freien Menschenbildes begründen lassen.