Vorwort und Einführung

In Sara Di Giulio & Alberto Frigo (eds.), Kasuistik und Theorie des Gewissens. Von Pascal bis Kant. Berlino, Germania: pp. vii–viii; 1–15 (2020)
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Abstract

Kant scholars have rarely addressed the centuries-old tradition of casuistry and the concept of conscience in Kant’s writings. This book offers a detailed exploration of the period from Pascal’s Provincial Letters to Kant’s critique of probabilism and discusses his proposal of a (new) casuistry as part of an moral education. *** Die Debatte um Kasuistik und Probabilismus zählt zu den wichtigsten Themen der Moraltheologie und Moralphilosophie der frühen Neuzeit. In der enormen Verbreitung der Literatur über die Gewissensfälle (casus conscientiae) und in der großen Resonanz der Lehre von den wahrscheinlichen Meinungen (opiniones probabiles) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts findet sich ein wirkungsmächtiges Modell für die Analyse des moralischen Handelns, in welchem Universalität des Gebots und Kontingenz der Handlung, Notwendigkeit der Norm und individuelle Freiheit miteinander versöhnt werden. Dennoch erregt dieses Modell heftige Kritik, die in Pascals berühmtem Angriff in den Briefen in die Provinz (1656–1657) gipfelt. So beginnt für die Kasuistik und den Probabilismus eine lange Krise, welche die Entstehung der modernen Moralphilosophie und den Siegeszug des kantischen Paradigmas ankündigt. Die Krise von Kasuistik und Probabilismus fällt zusammen mit einer einsetzenden rigoristischen Reaktion der christlichen Moraltheologie sowohl katholischer als auch protestantischer Prägung,welche die moralischen und spekulativen Folgen eines Rückgriffs auf Gewissensfälle und wahrscheinliche Meinungen als inakzeptabel ablehnt. Die Ablehnung geht aber weiter und dringt bis in den Kern der philosophischen Reflexion vor: Die rigoristische Reaktion gegen Kasuistik und Probabilismus entzündet sich im moralphilosophischen Denken Kants als Folge seiner umfassenden kritischen Revision der Grundbegriffe der Moralphilosophie sowie insbesondere seiner Neubestimmung des Verhältnisses von Gewissen und praktischem Urteil. Dem Grundsatz des Probabilismus setzt Kant das Kriterium der moralischen Gewißheit („quod dubitas, ne feceris!“) entgegen, das er als „Postulat des Gewissens“ bezeichnet (RGV 6:185.23–186.9).Und die Kasuistik wird als eine „Critic der Handlungen nach Sophistic“ abgestempelt, als eine „Uebung, um nach der Sophistic das Gewissen zu hintergehen oder es zu chicaniren, insofern man es in Irrthum zu setzen denkt“ (V-MS/Vigil 27:620.2–5). Dennoch weist Kant den kasuistischen Fragen eine herausragende Stellung in der Tugendlehre zu und legt der Kasuistik im Rahmen der ethischen Methodenlehre, also im Hinblick auf pädagogische Anwendungen, letztlich eine positive Funktion bei. Vermutlich ist Kants Angriff auf Kasuistik und Probabilismus durch den Einfluss Pascals philosophisch vermittelt. Kants Verhältnis zu Pascal und, allgemeiner, zu dem historischen Hintergrund, welchem dieser angehört, sind gleichwohl noch erstaunlich wenig erforscht: Trotz der wiederholten (stillschweigenden oder sogar ausdrücklichen) Hinweise an wichtigen Stellen in Kants Schriften richtet die Kant-Forschung ihre Aufmerksamkeit nur selten auf die Jahrhunderte währende Tradition der Kasuistik und den Begriff des Gewissens, der in ihrem Rahmen ausgearbeitet wird. Aus dieser langen Geschichte wird in diesem Band insbesondere der Zeitraum „von Pascal bis Kant“ eingehend untersucht, d.h. der noch wenig erkundete Zeitabschnitt von der beißenden Polemik von Pascals Briefe in die Provinz bis zu Kants eigener Kritik des Probabilismus und seinem Entwurf einer (neuen) Kasuistik als Teil der ethischen Methodenlehre.

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Sara Di Giulio
University Tübingen

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2020-10-26

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