Abstract
Kant scholars have rarely addressed the centuries-old tradition of casuistry and the concept of conscience in Kant’s writings. This book offers a detailed exploration of the period from Pascal’s Provincial Letters to Kant’s critique of probabilism and discusses his proposal of a (new) casuistry as part of an moral education.
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Die Debatte um Kasuistik und Probabilismus zählt zu den wichtigsten Themen der
Moraltheologie und Moralphilosophie der frühen Neuzeit. In der enormen Verbreitung
der Literatur über die Gewissensfälle (casus conscientiae) und in der
großen Resonanz der Lehre von den wahrscheinlichen Meinungen (opiniones
probabiles) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts findet sich ein wirkungsmächtiges
Modell für die Analyse des moralischen Handelns, in welchem Universalität
des Gebots und Kontingenz der Handlung, Notwendigkeit der Norm und
individuelle Freiheit miteinander versöhnt werden. Dennoch erregt dieses Modell
heftige Kritik, die in Pascals berühmtem Angriff in den Briefen in die Provinz
(1656–1657) gipfelt. So beginnt für die Kasuistik und den Probabilismus eine
lange Krise, welche die Entstehung der modernen Moralphilosophie und den
Siegeszug des kantischen Paradigmas ankündigt.
Die Krise von Kasuistik und Probabilismus fällt zusammen mit einer einsetzenden
rigoristischen Reaktion der christlichen Moraltheologie sowohl katholischer
als auch protestantischer Prägung,welche die moralischen und spekulativen Folgen
eines Rückgriffs auf Gewissensfälle und wahrscheinliche Meinungen als inakzeptabel
ablehnt. Die Ablehnung geht aber weiter und dringt bis in den Kern der philosophischen
Reflexion vor: Die rigoristische Reaktion gegen Kasuistik und Probabilismus
entzündet sich im moralphilosophischen Denken Kants als Folge seiner
umfassenden kritischen Revision der Grundbegriffe der Moralphilosophie sowie
insbesondere seiner Neubestimmung des Verhältnisses von Gewissen und praktischem
Urteil. Dem Grundsatz des Probabilismus setzt Kant das Kriterium der moralischen
Gewißheit („quod dubitas, ne feceris!“) entgegen, das er als „Postulat des
Gewissens“ bezeichnet (RGV 6:185.23–186.9).Und die Kasuistik wird als eine „Critic
der Handlungen nach Sophistic“ abgestempelt, als eine „Uebung, um nach der
Sophistic das Gewissen zu hintergehen oder es zu chicaniren, insofern man es in
Irrthum zu setzen denkt“ (V-MS/Vigil 27:620.2–5). Dennoch weist Kant den kasuistischen
Fragen eine herausragende Stellung in der Tugendlehre zu und legt der
Kasuistik im Rahmen der ethischen Methodenlehre, also im Hinblick auf pädagogische
Anwendungen, letztlich eine positive Funktion bei.
Vermutlich ist Kants Angriff auf Kasuistik und Probabilismus durch den
Einfluss Pascals philosophisch vermittelt. Kants Verhältnis zu Pascal und, allgemeiner,
zu dem historischen Hintergrund, welchem dieser angehört, sind
gleichwohl noch erstaunlich wenig erforscht: Trotz der wiederholten (stillschweigenden
oder sogar ausdrücklichen) Hinweise an wichtigen Stellen in Kants
Schriften richtet die Kant-Forschung ihre Aufmerksamkeit nur selten auf die
Jahrhunderte währende Tradition der Kasuistik und den Begriff des Gewissens, der in ihrem Rahmen ausgearbeitet wird. Aus dieser langen Geschichte wird in
diesem Band insbesondere der Zeitraum „von Pascal bis Kant“ eingehend untersucht,
d.h. der noch wenig erkundete Zeitabschnitt von der beißenden Polemik
von Pascals Briefe in die Provinz bis zu Kants eigener Kritik des Probabilismus und
seinem Entwurf einer (neuen) Kasuistik als Teil der ethischen Methodenlehre.