Die Würde der Verletzlichen

Weilerswist, Germany: Velbrück Wissenschaft (2022)
  Copy   BIBTEX

Abstract

»Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.« So äußerte sich Wolfgang Schäuble im April 2020 im Zusammenhang mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Die fundamentale Stellung der Menschenwürde, die Schäuble in seiner Aussage hervorhob, steht außer Streit. Der Schutz der Würde des Menschen bildet so etwas wie den Ankerpunkt, das Umwillen der Rechtsordnung. Was die Menschenwürde genau bedeutet, ist jedoch alles andere als klar. In der juristischen Literatur kommt die Schwierigkeit, die bei der Bestimmung des Begriffs besteht, vielfach zum Ausdruck. In den Kommentaren zum Grundgesetz wird etwa festgestellt, dass es einen allgemein akzeptierten, dogmatisch präzisen Rechtsbegriff der Menschenwürde nicht gebe. Ein operabler Begriff der Menschenwürde harre immer noch der Entwicklung. Das Zusammentreffen von fundamentaler Bedeutung und inhaltlicher Unbestimmtheit ruft nach theoretischer Reflexion. Dabei ist klar, dass gerade in der relativen Unschärfe und Offenheit des Begriffs der Menschenwürde auch ein Vorzug liegt. Gerade weil dieses Konzept so vage ist, kann es einen konsensfähigen Grund kollektiver Ordnung bilden. Die folgenden Überlegungen wollen dem Rechnung tragen und sind nicht von der Absicht geleitet, den Begriff abschließend zu definieren. Eher liegt das Ziel der Studie in einer Annäherung an den begrifflichen Gehalt der Menschenwürde. Disziplinär ist die folgende Untersuchung in erster Linie der Philosophie zuzuordnen, insbesondere der Rechts- und Moralphilosophie. Es handelt sich nicht um eine rechtswissenschaftlich-dogmatische Arbeit. Das Ziel der Arbeit besteht mithin nicht darin, den Rechtsbegriff der Menschenwürde auszulegen. Jedoch hat die Studie auch eine rechtlich-praktische Zielrichtung. Sie soll, auf philosophischer Grundlage, auch den Rechtsbegriff der Menschenwürde besser verstehen helfen und damit auch der juristischen Interpretation dienlich sein. Im dritten Teil wird die Arbeit daher Bezüge zum positiven Recht herstellen und eine juristische Interpretation des Begriffs vorschlagen. Bevor die Untersuchung einsetzt, ist eine kurze Verständigung darüber nötig, von welchem Begriff der Menschenwürde im Folgenden ausgegangen wird. Der Begriff kann unterschiedlich verstanden werden. Insbesondere bestehen Vorstellungen einer (wie man sagen kann) inhärenten und einer kontingenten Würde. Nach der ersten Vorstellung hat jeder Mensch eine Würde, die er nicht verlieren kann. Nach der zweiten Vorstellung ist Würde dagegen etwas, das ein Mensch je nachdem in größerem oder kleinerem Ausmaß besitzt. Die folgenden Überlegungen gehen von der Idee der inhärenten Würde aus. Diese Würde kann verletzt oder missachtet werden, sie kann dem Menschen aber nie eigentlich genommen werden. Die Menschenwürde auch in diesem Sinn basiert jedoch auf einer Zuschreibung. Der Mensch hat Würde nicht, wie er zwei Beine hat. Die menschliche Gemeinschaft schreibt sie ihm als unverlierbar zu. Es handelt sich bei dieser Zuschreibung mithin nicht um eine deskriptive, sondern um eine präskriptive Aussage. Gerade darin manifestiert sich der unverlierbare Gehalt der menschlichen Würde – denn in einem deskriptiven Sinn verstanden, kann diese durchaus verloren gehen. Ein Mensch kann faktisch unwürdig leben, entwürdigt werden, seiner Würde verlustig gehen. Das präskriptive Verständnis dagegen statuiert eine Würde, die alle faktischen Gegebenheiten überdauert und in jedem Fall besteht. Die folgenden Untersuchungen wollen diese Würde erläutern, aber nicht begründen. Denn nach hier vertretenem Verständnis bildet die Menschenwürde selbst den Grund der normativen Forderungen von Moral und Recht. Es gibt insoweit nichts weiter zu begründen – während die Würde, wie aufgezeigt werden soll, tatsächlich den Grund der Menschenrechte bildet. Insoweit – beim Verhältnis zwischen Menschenwürde und Menschenrechten – liegt ein Begründungsverhältnis vor. Dieses wird vor allem im zweiten Teil der Arbeit näher diskutiert. Im ersten Teil soll versucht werden, in einem allgemeinen, moralphilosophischen Sinn ein Verständnis der menschlichen Würde zu gewinnen. Dazu ist es zunächst nötig, sich die wichtigsten bestehenden Theorien zur Menschenwürde zu vergegenwärtigen. Die Auseinandersetzung mit diesen Theorien wird ein Defizit aufzeigen. Diesen Analysen schließt sich eine eigene Interpretation an, die am Schluss des ersten Teils mit einigen möglichen Gegenargumenten konfrontiert werden soll.

Author's Profile

Lorenz Engi
University of St. Gallen

Analytics

Added to PP
2022-11-15

Downloads
303 (#51,744)

6 months
134 (#23,248)

Historical graph of downloads since first upload
This graph includes both downloads from PhilArchive and clicks on external links on PhilPapers.
How can I increase my downloads?