Abstract
Kurz bevor Goethe in den Jahren 1808/9 die Wahlverwandtschaften schrieb, hatte sich sein ehemaliger naturwissenschaftlicher Kooperationspartner Johann Ritter in Untersuchungen zu Wünschelruten und Pendeln (1807/8) verloren, aus denen angeblich eine weitere tiefgreifende Analogie zwischen den Polaritäten in der Natur und denen beim Menschen hervorgehen sollte. Ritter arbeitete damals schon seit Jahren erfolgreich mit Goethes Polaritätsbegriff, und war dadurch sogar auf seinen größten Erfolg geleitet worden (die Entdeckung des UV-Lichts). So ist es nicht überraschend, dass sich Goethe für die Pendelexperimente interessierte – und ihnen im Roman ein literarisches Denkmal setzte (während er sich wissenschaftlich dazu sicherheitshalber nicht äußerte). Die von beiden geteilte Polaritätsidee lief auf mehr hinaus als den vagen Gegensatz zwischen irgendwelchen antagonistischen Wirkfaktoren; vielmehr hatte sie handfeste strukturelle Implikationen im Sinne einer mathematischen Symmetrie: Bei Vertauschung der entgegengesetzten Pole in irgendeiner gegebenen Konfiguration kehren sich die ursprünglich beobachtbaren Wirkungen genau in ihr Gegenteil um. Diese Idee ist ein Kerngedanke der Farbenlehre (1810) und liegt z. B. Goethes Farbenkreis zugrunde; überraschenderweise lässt sie sich an einigen entscheidenden Wendepunkten der Wahlverwandtschaften präzise dingfest machen, und dadurch gewinnt ein beliebtes Spiel unter Goethelesern einen neuen Dreh: Die Farben des Farbenkreises haben eindeutig identifizierbare Gegenstücke im Personentableau des Romans.