Ethik und Moral im Wiener Kreis. Zur Geschichte eines engagierten Humanismus.

Wien: Böhlau (2014)
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Abstract

Die vorliegende Schrift unternimmt eine Revision des vorherrschenden Bildes der Rolle und der Konzeptionen von Moral und Ethik im Wiener Kreis. Dieses Bild wird als zu einseitig und undifferenziert zurückgewiesen. Die Ansicht, die Mitglieder des Wiener Kreises hätten kein Interesse an Moral und Ethik gezeigt, wird widerlegt. Viele Mitglieder waren nicht nur moralisch und politisch interessiert, sondern auch engagiert. Des Weiteren vertraten nicht alle die Standardauffassung logisch-empiristischer Ethik, die neben der Anerkennung deskriptiv-empirischer Untersuchungen durch die Ablehnung jeglicher normativer und inhaltlicher Ethik und der Verfechtung eines extremen Nonkognitivismus geprägt ist. Am meisten entspricht die Standardauffassung den Ansichten Rudolf Carnaps, weniger bereits jenen Karl Mengers, Otto Neuraths oder Philipp Franks. Am weitesten weichen Moritz Schlick, Victor Kraft sowie Herbert Feigl von der Standardauffassung ab. Entgegen dem herkömmlichen Bild weltabgewandter Logiker und Metaethiker wurde im Wiener Kreis sogar Angewandte Ethik betrieben, und dies bereits unter diesem Namen. Neben den ethischen Hauptthemen und Ansichten der jeweiligen Philosophen in ihrer Entwicklung im Rahmen ihres persönlichen und kulturellen Kontextes zeigt die Untersuchung, dass allen Ansätzen eine aufgeklärte und humanistische Version von Moral und Ethik gemeinsam ist. Dieser wissenschaftliche Humanismus, der sich schon in der Programmschrift Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis findet, liegt jedoch in verschiedenen Ausprägungen vor. Was die Abweichungen von der Standardauffassung wesentlich betrifft, ist ihre unterschiedliche Auffassung von Moral als gemeinsames oder individuelles Unternehmen. Carnap führt ein extremer Individualismus zu einem extremen Nonkognitivismus, in dem ihm Menger folgt. Bei Schlick ist die Lage zweideutig, was sich in unterschiedlichen Moralbegriffen widerspiegelt. Bei Kraft und Feigl tritt das Verständnis von Moral als gemeinschaftlich geteilte Praxisform klar hervor. Auf der Basis eines gemeinsamen Begriffs des moralisch Guten, der auch eine Sachkomponente enthält, ist eine Verständigung über moralische Fragen möglich. Von einem extremen Nonkognitivismus kann dort nicht mehr die Rede sein. Mit diesen Ergebnissen verbietet es sich, dem Wiener Kreis allgemein eine Ablehnung normativer Ethik und einen extremen Nonkognitivismus zuzuschreiben. Eine systematische Ethik, die Moral als Gemeinschaftspraxis begreift, steht einigen im Wiener Kreis näher, als das vorherrschende Bild suggerieren möge. Wer meint, mit engem Bezug zur Tradition des Wiener Kreises nur Carnap folgen zu können und Ethik als suspektes Unternehmen betrachten zu müssen, irrt. Ethik war in der Tradition Analytischer Philosophie nicht immer so marginalisiert, wie sie es in manchen ihrer Teilrichtungen heute noch ist und Gegner(innen) der Analytischen Philosophie vorwerfen. Die vorliegende Untersuchung liefert die nötige Revision einer verfänglichen Fehlentwicklung.

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Anne Siegetsleitner
University of Innsbruck

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2014-07-07

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