Abstract
Sind die Menschenrechte primär Ausdruck einer politischen Praxis und die Idee der Menschenrechte eine Art „Überbau“, den die Praxis epiphänomenal hervorbringt? Oder ist die Praxis der Menschenrechte das Ergebnis der Verwirklichung einer normativen Idee, die unabhängig von ihr existiert? Ist die Idee der Menschenrechte die Bedingung dafür, dass es die Praxis der Menschenrechte geben kann? Oder gibt es einen Vorrang der Praxis vor der Idee? In meinem Aufsatz argumentiere ich für zwei These: 1. These: Menschenrechte sind prinzipiell unabhängig von jeder bestehenden rechtlichpolitischen Praxis und sind zugleich untrennbar an bestimmte rechtlich-politische Praktiken geknüpft. Darin besteht der konstitutive Widerspruch der Menschenrechte. 2. These: Aus diesem Widerspruch folgt nicht, dass wir aufhören sollten über Menschenrechte nachzudenken und eine Politik der Menschenrechte anzustreben. Der Widerspruch hat keine lähmende Wirkung, sondern ist theoretisch und praktisch produktiv. Um diese Thesen zu plausiblisieren, werde ich zunächst einige Grundzüge von Arendts Diskussion der Menschenrechte rekapitulieren (Abschnitt 2) und ihr Postulat eines den Menschenrechten vorgelagerten „Rechts, Rechte zu haben“ diskutieren (Abschnitt 3). Ausgehend von einer kritischen Diskussion der diskurstheoretischen Weiterentwicklung von Arendts These zu einem „Recht auf Rechtfertigung“ im diskurstheoretischen Konstruktivismus von Seyla Benhabib und Rainer Forst (Abschnitt 4) werde ich einen rechtfertigungstheoretischen Dekonstruktivismus vorstellen, der das Verhältnis von Praxis und Idee der Menschenrechte als produktiven Widerspruch fasst (Abschnitt 5).