Abstract
Die Physikalisierung der Psychologie war für Carnap Teil eines Programms, das die Sonderstellung der Psychologie als Wissenschaft des menschlichen Denkens und Fühlens als Illusion entlarven und zeigen sollte, die Psychologie sei ein Teil der Physik wie alle anderen Wissenschaften auch. In etwas anderer Motivation zielte Carnaps Physikalismus ausserdem auf eine Überwindung der Trennung von Geistes–wissenschaften und Naturwissenschaften: Erwiese sich die Psychologie sich als physikalisierbar, wäre das ein wesentlicher Schritt für die Vereinheitlichung der Wissenschaften in Gestalt einer enzyklopädischen „Einheitswissenschaft“ überhaupt.
Carnaps Argument für die Physikalisierbarkeit der Psychologie als ganzer basierte auf der These der Physikalisierbarkeit der Graphologie als zentraler Teildisziplin der Psychologie. Die Graphologie sei der begrifflich am weitesten fortgeschrittene und deshalb am ehesten physikalisierbare Teil der Psychologie. Das verdanke sie in erster Linie den wegweisenden Arbeiten Ludwig Klages’. Erweise sich die Graphologie als physikalisierbar, stehe einer durchgehenden Physikalisierung aller Wissenschaften nichts mehr im Wege.
Als Episode in Carnaps philosophischer Entwicklung ist dem Graphologieprojekt bis heute kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das ist ein Versäumnis, manifestiert sich in diesem Projekt doch der allgemeine Stil des Carnapschen Philosophierens besonders deutlich, nämlich von einer sehr abstrakten und idealisierten Vorstellung von Wissenschaft ausgehend weitreichende philosophische Folgerungen zu ziehen.