Abstract
Im ersten Teil verorte ich den historischen Kontext des Umbruchprozesses der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Physik. Vom Beginn der Neuzeit bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Physik die Leitwissenschaft in den Naturwissenschaften. Der Wandlungsprozess der auf sie bezogenen Wissenschaftsauffassungen setzt im 19. Jahrhundert bislang unangetastete, von der Antike herrührende Geltungsansprüche außer Kraft.
Im zweiten Teil vergleiche ich Nietzsches Charakterisierung der Wissenschaften exemplarisch mit der von Hermann von Helmholtz. Helmholtz kann als ein herausragender Vertreter der Naturforschung des 19. Jahrhunderts angesehen werden. Er entwickelte seine erste bahnbrechende wissenschaftliche Leistung noch ganz im Rahmen einer auf Wahrheit und Einheit fokussierten Wissenschaftsauffassung. Im Verlauf seiner weiteren Arbeiten relativierten sich seine Geltungsansprüche zunehmend. In systematischer Hinsicht näherte sich Helmholtz damit nicht nur der Position an, die Nietzsche immer schon eingenommen hat, sondern er übertraf sie sogar in bestimmter Hinsicht. -/- Im dritten Teil setze ich mich kritisch mit einem Aspekt der Rezeption des historischen Verhältnisses von Nietzsche und Helmholtz auseinander. Helmholtz gehörte zu den wenigen repräsentativen Naturwissenschaftlern, von denen man annimmt, dass ihre Forschungen auf das Denken Nietzsches Einfluss hatten. Bemerkenswerterweise stammen die betreffenden Arbeiten aus der ersten Phase von Helmholtz’ Wissenschaftsauffassung. Während Helmholtz mit seinen Forschungen einen traditionellen Wahrheitsanspruch bestätigt sah, bezog sich Nietzsche auf sie, um sie umgekehrt zur Destruktion dieses Anspruches einzusetzen. Wo der Rezeption diese Konstellation entgangen ist, hat sie dazu beigetragen, die Aktualität von Nietzsches Wissenschaftskritik zu überschätzen.